Parallelwelt

06.09.2023

Wir sind auf Wolken gegangen, haben uns minutenlang in die Augen gesehen. Die Welt um uns war uns egal, unwichtig. Wir spürten nur uns. Wir bildeten das Zentrum des Universums.
Mit dem GA entdeckte er die schönsten Plätze der Schweiz. Alles von Bern aus und erst ab dem Mittag. Zermatt ab dem Mittag. Konstanz, ab dem Mittag. Auf der Rigi waren wir erst um 15:00. Dann kehren wir Schweizer langsam nach Hause zurück, in der Sorge das Abendbrot in Eile zubereiten zu müssen. Dafür hatten wir die Aussichtsplattform für uns. Die Sitzbänke, für uns. Die Kapelle, für uns.
Immer häufiger kam er von seinen Entdeckungen über Luzern zurück. Spät abends, wo jedwelche Möglichkeit zur Nahrungsmittelaufnahme über den amerikanischen Fastfoodgiganten zu erfolgen hatte. Dann lagen wir zusammen unter dem glitzern des Kosmos auf der Wiese, nachdem wir uns kleiderlos in den warmen See gestürzt hatten.
Als sein GA auslief, wir einige Städte besichtigt hatten und in so manches Gewässer gesprungen sind, besuchte ich immer öfter Bern, sein Domizil. Von da schwammen wir in der Aare, gingen auf den Gurten. Er zeigte mir aufrichtig sein Liebefeld. Es gibt nicht viele Namen die auf Deutsch schön klingen. Aber Liebefeld klingt nicht nur schalmeienähnlich, auch die Bedeutung scheint romantisch zu sein. Irgendwie glaubte ich, der Name passe zu uns.
Im Café de Pyrénées haben wir erst noch einen Tarte verspiesen als beiläufig die Frage auftauchte, ob ich ihm meine Unterschrift für seinen Aufenthalt geben könne. Die braucht er allerdings nicht, sein Schengenvisum ist bis im Oktober gültig. Dann will er vielleicht ausreisen, seine Eltern in der Nähe der Wolga besuchen und dann wieder zurück. In die Schweiz. Nach Liebefeld. Viel haben wir nicht drüber geredet. Wir lebten im hier, im jetzt, im Moment. Alles andere war unwichtig. Unsere Kommunikation deckte einige Felder ab, nur die Politik langten wir nicht an. Obwohl wir beide politisch sehr interessiert sind. Das Thema scheint unangenehm zu sein. Wie sollte ich mit einem Semitataren mit Russischem Pass über das Weltgeschehen sprechen? Schämt er sich seiner Herkunft? Stolz darauf scheint er nicht zu sein, die russische Sprache negiert er, spricht viel lieber Englisch, das er äusserst adäquat an der Moskauer Universität studiert hat.

Erst am nächsten morgen beginnt das novellistische, retartierende Moment. Lange begriff ich nicht, was los war. Er müsse in Bern beim Staatsekretariat für Migration vorbei, ein paar Formalitäten erledigen. Dann hätte er seine Sachen zu packen. Für eine Woche sagte er mir. Er werde nach Basel verlegt. Wieso das? Er habe einen Asylantrag gestellt. Auf keinen Fall wollte er den schönen Moment mit mir beim Sonnenuntergang unterbrechen. Nicht für dieses Thema. Um Himmels Willen, weshalb sollte ein bestens ausgebildeter Englischlehrer mit Russischem Pass Asyl in der Schweiz erhalten? Ein Mann der zuvor die halbe Welt bereist hat. Stolz hat er mir erst kürzlich vom Cowboyritt in Wyoming erzählt. Vor einem Monat war das. Und jetzt sah er sich plötzlich erschrocken in dieser fensterlosen Unterkunft in dreistöckigen Betten, Matratze an Matratze. Es sei es ihm wert. Zumindest der Versuch. Er wolle nicht in dieses homophobe Russland zurück. Nein, er will in Liebefeld bleiben. Dort fühle er sich zuhause.

Nach meiner Arbeit habe er ein bisschen Freizeit, ich solle nach Basel kommen. Aber um 20 Uhr müsse er zurück in der Unterkunft sein. Ich nehme den fünf uhr Zug nach Luzern. Dann nach Basel. Aufgrund eines technischen Defekts ist in Olten Schluss. Eine Völkerwanderung drängt auf den Ersatzzug nach Basel, der heute über Brugg fährt. Er wartet schon am Schweizerbahnhof. Eine Stunde später werde ich dort sein. Wir verabreden uns in der S6, da uns die Zeit davontickt. Doch auch diese verpasse ich. Er ist im Zug, muss zurück. Er befindet sich nicht mehr in der Lebenssituation, in der er sich Ausrutscher erlauben könnte. Nichts riskieren, das die Wahrscheinlichkeit einer Ablehnung erhöht. Ich steige ins Tram 8 ein. Bis zur Endhaltestelle. Die Grenze scheint nicht mehr weit. Hier steige ich aus, gehe an den letzten Wohnhäusern vorbei und biege in die Industriestrasse ein. Beim bewachten Tor ein kleiner Tumult mit der Polizei und einige betrunkene Menschen. Dahinter steht er. Unbeteiligt. Den Eingangswächter kurz auf Schweizerdeutsch um Erlaubnis fragen. Er darf kurz raus, einige Meter können wir gehen. Seine ansonsten erhabene Kreatur erscheint gebrochen. Die Augen tränenbefeuchtet. Er ist sichtlich gerührt über meinen Besuch. Ich bin es auch.
Er sieht den Asylantrag als seinen letzten Ausweg. Meine Skepsis lasse ich nicht durchblicken. Ich hoffe nur, dass es klappt. Das ist mein grosser Wunsch zurzeit. Er hätte es verdient. Homosexuell in Russland und vom Kriegseinzug geflohen, reicht das aus? Ich hoffe es sehr. Er besorgt mir noch kurz seinen Laptop, und sein Tablet. Selbst seine Portemonnaie gibt er mir mit. Das sei ihm alles konfisziert worden. Bei mir sei es besser aufgehoben. Ein letztes Mal liegen wir uns in den Armen. Dann muss er zurück.
Er fragt mich später per sms, ob mein Tram pünktlich sei. Als ob das von Bedeutung wäre. Später schreibt er mir, wenn er das überstanden habe, werde er mit mir überall hin reisen. So weit wie uns das GA bringt, fügt er subtil an.
Und jetzt weine ich. Ich, der Freie im Tram Nummer 8, das unentwegt Richtung Schweizerbahnhof fährt...

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